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Brauchen wir eigentlich wirklich mehr Forschung zum Salafismus? Und wenn ja: welche?

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Icon Blogfokus Salafismus

Dies ist der 18. Artikel unseres Blogfokus „Salafismus in Deutschland“. Weitere Informationen gibt es hier.

von Riem Spielhaus1

In aktuellen politischen Debatten genauso wie in wissenschaftlichen Veröffentlichungen wird häufig festgestellt, dass wir zu wenig über das Phänomen des Salafismus wissen. In der Tat: Auf empirischen Daten basierende Veröffentlichungen sind immer noch selten, während konzeptuelle und ideengeschichtliche Auseinandersetzungen mit dem salafistischen Feld in den vorhandenen Publikationen ebenso überwiegen wie die Zahlen aus Sicherheitsbehörden. Was sind die Ursachen dafür, welches Wissen benötigen wir und welche Forschungsansätze sind vielversprechend? Dieser Beitrag widmet sich diesen Fragen. Er stellt fest, dass der Salafismus fast ausschließlich als politisches Phänomen und Sicherheitsproblem und kaum in seinen religiösen und lebensweltlichen Dimensionen erforscht wird und nicht zuletzt eine methodische und konzeptuelle Standortbestimmung für die Forschung zu salafistischen Milieus geboten ist.

Die verlässlichsten heute vorliegenden Zahlenangaben, mit denen das Phänomen Salafismus in Deutschland und die Anzahl der dieser Strömung des Islams zuneigenden Personen beschrieben wird, sind die Schätzungen der Sicherheitsbehörden. Die aktuellste Veröffentlichung geht für 2014 von etwa 7.000 Anhängern in Deutschland aus2. Diese Schätzungen entfalten weit über die jährlichen Berichte und weiteren Publikationen der Behörden eine Wirkmächtigkeit, indem sie in akademischen Texten immer wieder als eine der wenigen Referenzen zur Datenlage herangezogen werden, um Relevanz und Ausmaß des Phänomens einzuschätzen. Zahlreiche weitere Publikationen basieren auf den Erfahrungen zivilgesellschaftlicher Akteure in der Präventions- und Deradikalisierungsarbeit, von denen einige im Rahmen ihrer Beratungsarbeit Datenbanken mit Fallanalysen anlegen, diese jedoch aufgrund von Ressourcenmangel kaum systematisch aufarbeiten können. Weil die zu Beginn der etwa zwei Dekaden zurückreichenden und damit recht jungen Forschungen zu Muslimen in Deutschland nicht als solche benannt und separat erfasst wurden, tauchen Salafisten in den einschlägigen Studien kaum auf: nicht in Erhebungen zur Organisations- und Moscheelandschaft3, nicht in den großen Erhebungen zur Diversität der muslimischen Bevölkerung4 und nur mit einer Ausnahme in den vom Bundesinnenministerium in Auftrag gegebenen Untersuchungen zu Extremismus und Islamismus5.

Warum wissen wir so wenig über den Salafismus?

Schnell ließe sich nun behaupten, die Wissenschaft habe etwas verschlafen und mehr Forschung zum Salafismus fordern. Bemerkenswerterweise wird gerade von Mitarbeitern der Sicherheitsbehörden der Wunsch geäußert, die Wissenschaft möge „Daten zu Einstellungen, sozialer Herkunft und Zahlen deutscher Salafisten“ erheben.6 Hier scheint meines Erachtens allerdings der Moment gegeben, innezuhalten und nach den Gründen der derzeitigen Situation zu fragen, die womöglich nicht zuletzt in der recht jungen Geschichte des Begriffs Salafismus liegen. Wo entstand der Begriff und in welchem Kontext taucht er auf? Gibt es etwa berechtigte Bedenken, mit einem (alleinigen) Fokus auf Salafismus zu forschen? Welche methodischen Schwierigkeiten schränken die Datenerhebung in diesem Feld ein? Brauchen wir wirklich mehr Forschung zu Salafisten oder Muslimen?

Von der Salafiyya zum Salafismus

Aus Sicht der klassischen Islamwissenschaften löst der Begriff Salafismus den der salafiyya ab, mit der bis in die 2000er Jahre vor allem eine religiöse Denkrichtung und Praxis und außerdem als reformerisch beschriebene Bewegung bezeichnet wurde. Mittlerweile erhielt der Begriff mit dem häufig als für Extremismen stehend verstandenen Suffix ‚-ismus‘ in seiner Übersetzung in europäische Sprachen einen negativen Beiklang. Als Reformbewegung wurde die salafiyya vielfach beschrieben, weil sie eine Rückkehr zur Interpretation der Ausgangsquellen des Islams Koran und Sunna unternahm und Teil einer Modernisierungsbewegung des Islams seit dem frühen 20. Jahrhunderts war, die sich zunächst keineswegs als anti-aufklärerisch oder anti-demokratisch verstand und auch in der Wissenschaft bis in die späten 1990er Jahre kaum so gewertet wurde. Dies änderte sich jedoch massiv, seit in den vergangenen Jahrzehnten Prediger, die für totalitäre politische Systeme argumentieren und deren Durchsetzung zum Teil mit terroristischer Gewalt befürworten und auf der Basis islamischer Texte legitimieren. Mit der Brutalität ihres Handelns überschatten sie gewaltlose oder explizit Gewalt ablehnende Strömungen unter denen, die sich selbst in der Tradition der salaf aṣ-ṣāliḥ verstehen oder aufgrund ihres äußeren Erscheinungsbildes, also dem Bart und knöchelhohe Hosen oder lange Hemden bei Männern und Vollverschleierung bei Frauen den Salafisten zugeordnet werden. In Verfassungsschutzberichten von Bund und Ländern werden salafistische Bestrebungen seit 2008 regelmäßig erwähnt. Akademische und populärwissenschaftliche Veröffentlichungen nehmen seitdem zu. In Deutschland wird etwa seit 2010 vermehrt über Salafisten und salafistische Gruppierungen gesprochen und geschrieben.7 Dabei lassen sich drei weitgehend getrennt voneinander existierende Stränge in der Publikationslandschaft erkennen: a) Forschung zur salafiyya, b) Forschung zu Musliminnen und Muslimen in Deutschland, c) Forschung zum Salafismus in Deutschland.

In zahlreichen Forschungen über muslimisches Leben in Deutschland stecken sehr wohl Informationen über seit 2010 im sicherheitspolitischen Diskurs dem salafistischen Milieu zugerechnete Gemeinden und Individuen. Nur wurden diese nicht unter der Begrifflichkeit geführt oder als Informationen über Salafismus oder Salafisten markiert. Grund hierfür ist sicherlich auch, dass diese Studien entstanden, bevor salafistische Gruppierungen in das Visier der Sicherheitsbehörden gerieten und die heutige Aufmerksamkeit der Medien erhielten. Aufgrund der gestiegenen Aufmerksamkeit ist nun davon auszugehen, dass salafistischen Gruppierungen und Einstellungen in Zukunft nicht nur separate Untersuchungen gewidmet werden, sondern auch Forschungen zu Musliminnen und Muslimen allgemein auf ihre Aussagekraft zu dieser Minderheit der Muslime befragt werden.

Dominanz des sicherheitspolitischen Blicks

Das Sprechen, Forschen und Denken über den Salafismus ist in Deutschland wie anderswo vor allem von sicherheitspolitischen Bedenken geprägt. Während die Forschung im akademischen Feld sich des Themas erst allmählich annimmt, dominierten in den vergangenen Jahren Sicherheitsbehörden und damit im Zusammenhang stehend auch die Sicherheitsperspektive die Literaturlandschaft zum Salafismus durch zahlreiche Publikationen und durch die qualitativen und quantitativen (Ein-)Schätzungen. Im Gegenzug bemängeln qualitativ Forschende den Mangel an lebensweltlichen Forschungen, die die Binnenperspektive zugänglich machen oder religionswissenschaftliche Analysen, die Einblick in theologische Argumentationen und Religionspraxis geben. Defizitorientierte und durch die Sicherheitsperspektive geprägte Ansätze scheinen in der Grundkonzeption des Forschungsfeldes und möglicherweise eben auch der Konzeption des Begriffes Salafismus zu liegen und nur im Ausnahmefall oder mit viel Mühe überwindbar zu sein.

Genau diese Konstellation scheint nicht unwesentlich für die Zurückhaltung vieler Forschender verantwortlich zu sein, wurde der Salafismus doch von sicherheitspolitischen Kreisen auf die (Forschungs-)Agenda gesetzt und ergab sich nicht etwa aus der Forschung heraus. Aber es gibt auch noch andere Gründe für den Mangel an empirie-basierten Publikationen über Salafismus und Salafisten in Deutschland. Herausforderungen bestehen in besonderer Weise für quantitative Erhebungen im salafistischen Umfeld und das Vorhaben, den Anteil ‚der Salafisten‘ an der Gesamtheit der Musliminnen und Muslime in Deutschland zu bestimmen. Ein Team dänischer Wissenschaftlerinnen hat dieses methodische Problem am Beispiel ihrer Erhebung zur Anzahl der Vollverschleierung tragenden Musliminnen in Dänemark diskutiert. Bereits die religiöse Minderheit der Muslime ist mit weniger als fünf Prozent der Bevölkerung europäischer Länder nur unter hohem Kostenaufwand und enormem methodischen Aufwand für repräsentative Umfragen zu erreichen. Für die Salafisten als ein kleiner Bruchteil dieser Minderheit gilt das umso mehr, insbesondere da sie sich nicht immer mit dem Label identifizieren.8 Wollen wir in Zukunft also grundlegende in akademischer Unabhängigkeit erhobene und nicht allein auf verfassungsfeindliche oder gewaltbereite Strömungen innerhalb salafistischer Milieus fokussierte Untersuchungen haben, besteht die Notwendigkeit passende Forschungskonzepte zu finden oder zu entwickeln.

Auch in Zukunft wird sich die Forschung zu Islam und Muslimen in Deutschland hoffentlich nicht als Gehilfin der Sicherheitsbehörden verstehen. Das von mittlerweile fachlich versierten und für die Fallstricke des pauschalisierenden Islamdiskurses sensibilisierten Mitarbeitern der Sicherheitsbehörden geäußerte Interesse an Forschungen zu Radikalisierungsprozessen und zur Innenperspektive salafistischer Milieus ist jedoch nicht nur negativ zu sehen. Gerade über die gewaltablehnenden Teile der salafistischen Gemeinschaften, die in den Beobachtungen des Verfassungsschutzes zu Recht außen vor bleiben, ist nämlich immer noch zu wenig bekannt um den Pauschalisierungen im Diskurs über den Salafismus hierzulande entgegenzutreten. In jedem Fall bleibt zu überlegen, ob eine isolierte Forschung zu Salafisten geeignet wäre, die gewünschten Ergebnisse zu bringen, oder ganzheitlichere Ansätze, die Beweggründe und Lebensrealitäten sich religiösem Pietismus oder sogar Extremismus zuwendende Menschen in besserer Weise erklären können9. Grundlegende methodische und konzeptuelle Überlegungen für die zukünftige Forschung zu salafistischen Milieus in Deutschland und Europa sind daher dringend notwendig.

RiemDr. Riem Spielhaus ist Islamwissenschaftlerin am Erlanger Zentrum für Islam und Recht in Europa (EZIRE) der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Spielhaus forschte am Centre for European Islamic Thought (CEIT) der Universität Kopenhagen zu quantitativen Erhebungen unter Muslimen in Europa und beschäftigt sich derzeit vor allem mit Moscheen in Berlin und der zwischen Religions- und Integrationspolitik schwenkenden Islampolitik in Deutschland. Zur ihren Forschungsschwerpunkten gehören islamische Religionspraxis und Institutionalisierung des Islams in Deutschland, Islampolitik sowie Repräsentationen des Islams und Wissensproduktion zu Muslimen. Sie ist Autorin des Buches „Wer ist hier Muslim? Die Entwicklung eines islamischen Bewusstseins in Deutschland zwischen Selbstidentifikation und Fremdzuschreibung.“ (2011) erschienen im Ergon Verlag und Mitautorin der Publikation „Die rechtliche Anerkennung des Islams in Deutschland“ (2015) erschienen bei der Friedrich-Ebert-Stiftung sowie des im Journal of Muslims in Europe veröffentlichten Artikels „Counting deviance. Revisiting a decade’s production of surveys among Muslims in Western Europe” (2012).
Logo des Blogfokus basierend auf diesem Bild (gemeinfrei), abgeändert.

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